Dr. José Porfirio Miranda de la Parra

José Porfirio Miranda de la Parra
wurde am 15. September 1924 in Monterrey im mexikanischen Bundesstaat Nuevo León geboren. Sein Vorname war José, wie der seines Vaters, sowie Porfirio, weil er am 15. September geboren wurde, dem Tag des San Porfirio; in der Familie wird er José genannt und so ist er auch im Ausland bekannt, sein Künstlername war jedoch immer Porfirio.

Sein Vater, José Quintin de Miranda González Arce, ging bis zum Alter von zwölf Jahren in das Jesuitenkolleg “Colegio de Mascarones”, dann musste er die Schule verlassen und anfangen zu arbeiten. Seine Mutter, María Eugenia de la Parra Irigoyen, war die Tochter von Cayetano de la Parra, des Besitzers der “Hacienda del Mortero” im Bundesstaat Durango. Sie heirateten am 25. Juli 1922 in der Santa-Brigida-Kirche in Mexiko-Stadt. Das Ehepaar zog dann in die Stadt Monterrey, da José Quintín bereits Bankangestellter war und zum Leiter der dortigen Filiale des Banco Francés ernannt wurde. Dort kam der älteste Sohn José Porfirio zur Welt. Kurze Zeit später ging die Bank in Konkurs, weshalb die Familie Miranda de la Parra harte Zeiten durchlebte. In diesen Zeitraum fiel auch die religiöse Verfolgung, und María Eugenia de la Parra de Miranda engagierte sich dafür, den Herz-Jesu-Schwestern und vielen anderen Menschen, die sie verlangten, die Kommunion zu bringen. Der kleine Porfirio in ihren Armen war der Hüter der heiligen Hostie.

José Quintín und María Eugenia kehren 1926 nach Mexiko-Stadt zurück, und die Banco Nacional de México stellte Herrn Miranda an; in dieser Institution arbeitete er dann den Rest seines Lebens. 1932 wurde der zweite Sohn des Paars, Luis Alfonso, geboren; und ein Jahr später Moisés Francisco. Danach kamen noch fünf Schwestern: María Enriqueta, María Eugenia, María Elena, Dolores und Cristina. Die drei Jungen hielten wie ein Mann zusammen: Der dreijährige Moisés passte auf die Schulranzen der beiden anderen auf, die sich in Streitigkeiten verwickelten. Über diese Zeiten berichtet sein Bruder Alfonso: “Mein Bruder zeichnete sich durch seine Begeisterung fürs Lernen, den Sport und Streitereien aus.” Hier besuchte José Porfirio die ersten drei Grundschulklassen.

1934 wurde Herr Miranda als Filialleiter der Bank nach Torreón versetzt. Dort wohnten sie viele Jahre lang. José Porfirio fühlte sich immer als aus Torreón stammend. Don José erzählte seinen Kindern, dass in jener Zeit so wenige Menschen zum Abendmahl gingen, dass, als er zum ersten Mal in die Kathedrale “El Carmen” ging, ihm der damalige Pfarrer, Pater Ginori, die Kommunion verweigerte, weil er ihn nicht kannte und ein Sakrileg von seiner Seite fürchtete. Er dachte dann, es sei notwendig, die Männerwelt Torreóns durch Exerzitien zu christianisieren. Das erste Mal fanden sie im Casino de la Laguna statt. Man dachte, an diesen Ort zu kommen würden die Männer keine Angst haben. Für José Porfirio war die Gestalt seines Vaters von tiefer Bedeutung. Wir pflegten ihm vorzuhalten, er suche ihn sogar in seinen Fehlern zu imitieren. Er war ihm sein Leben lang ein Beispiel.

Die 4., 5. und 6. Grundschulklasse absolvierte Porfirio bei Privatlehrern. Zum Besuch der Sekundarschule schickte José Quintín seine drei Söhne ins Internat zu den Jesuiten im Instituto Oriente de Puebla. José Quintín wollte, dass die Region Laguna eine Bildungseinrichtung bekommen solle, die den Bildungsbedarf des Gebiets abdeckte, und wurde so auf die Lasallisten in Mexiko-Stadt aufmerksam. Das war im August 1938. Am Platz der Begründer des Französischen Instituts befindet sich ist eine Gedenktafel in Anerkennung für die Arbeit und Großzügigkeit von Luis Garza und für José Quintín Miranda.

Das Französische Institut der Region Laguna nahm seine Tätigkeit am 8. Februar 1939 mit nur 62 Schülern auf; der erste Eingeschriebene unter ihnen war José Porfirio. Dort besuchte er die 2. Klasse der Sekundarschule, bis er nach Mexiko-Stadt übersiedelte, um 1940 im Alter von 16 Jahren ins Apostolische Kolleg der Gesellschaft Jesu in Tacubaya einzutreten, wo er die 3. Klasse Sekundarschule absolvierte.

Aufgrund der religiösen Verfolgung unter dem damaligen Präsidenten General Calles wurde das Noviziat der Gesellschaft Jesu ins Isleta College nach El Paso, Texas, verlagert. Dort setzte Porfirio seinen Bildungsweg in der Mittel- und Oberstufe sowie ein Haupt- und Aufbaustudium in Sozialwissenschaften fort, das von der Loyola University in Los Angeles, California, anerkannt ist.

In Isleta bildet sich eine der großen Leidenschaften von José Porfirio heraus, nämlich für klassische Musik und besonders für Brahms; eine Leidenschaft, die sein ganzes Leben über anhalten sollte. An die Musik-Sitzungen erinnert sich noch sein Mitnovize Pablo Latapí. Die Aufnahme, die zuletzt noch auf dem Plattenspieler lag, waren die Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 von Brahms.

Seine Leidenschaft für die Philosophie erwacht ebenfalls in jenen Jahren echter und tiefer religiöser Inbrunst, die aber gleichzeitig geprägt sind von Polemik mit seinen Lehrern, die gern einen getreuen Hörer ihrer philosophischen Diskurse, jedoch keinen unabhängigen und kritischen Denker gehabt hätten, wie er ihnen in Porfirio gegenübertrat, dessen überlegene Intelligenz sich nicht an die Kette legen ließ.

1950 geht er nach Beendigung seines Philosophiestudiums als Schullehrer an das Instituto de Ciencias in Guadalajara. Seine überwältigende Persönlichkeit, seine Nähe zu den Schülern beim Sport wie auch beim Lernen und seine treue Freundschaft schaffen Bande der Zuneigung und Freundschaft, die dauern und sie durch die Ereignisse ihres Lebens hindurch begleiten.

Seine andere Leidenschaft, die ausschlaggebende, die sein ganzes Leben bewegte – die Leidenschaft für Christus und sein Reich – offenbart er uns beim Tod seines Vaters im selben Jahr; am 17. Oktober 1953 schreibt er: “Das war bereits vorauszusehen, lieber Vater, ‘Auf Wiedersehen im Himmel’. Das haben wir beide gespürt, als wir uns voneinander verabschiedeten, vor 38 Tagen… Wie wirklich ist für mich nun die Ewigkeit. Und wie nah. Eine Frage von noch ein paar Jahren… und wie du dieses Licht klar siehst, das ich suche, das zu erahnen ich mich abmühe: wie das Reich Christi wirksam auszudehnen sei.” Diese Leidenschaft bedeutete zwar einen Kampf mit der ganzen überwältigenden Kraft seiner Persönlichkeit, aber auch sein ganzes Leben lang die Innigkeit einer persönlichen Beziehung zu Gott, ergreifend bis ins Innerste seines Seins. An seinen Vater schrieb er von Rom aus, wo er am Päpstlichen Bibelinstitut an der Gregorianischen Universität Theologie zu studieren begonnen hatte, wie er 1953 in seinem Tagebuch festhält: sein erstes Buch werde “Von Kant zum Beweis der Existenz Gottes: Kant und die Existenz Gottes” heißen.

1954 beginnt er seinem Denken systematischen Ausdruck zu geben, und zwar in Heften, die er “Einfälle” nennt und die ein wenig Tagebuch, Meditation, persönliche Reflexion oder auch Lektüre-Kommentare enthalten. Von da an finden wir bis hin zu seiner letzten Krankheit seine Tagebuchaufzeichnungen. Den Grundton für das Wichtigste geben die Nachrichten und Ereignisse, mit denen die Verwirklichung des Reiches Jesu, des Reiches der Gerechtigkeit und Liebe, vorangebracht oder behindert wird. Dies ist sein Kriterium für die Lektüre von Geschichte.

1955-56 setzt er sein Theologiestudium in Frankfurt an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen fort. Dort verblüfft er seine Kommilitonen mit seinen Kenntnissen im gesprochenen Latein. Und er schockiert den Superior, einen ehemaligen Soldaten des II. Weltkriegs, als er äußert, man solle das Essen verbessern und einen guten Koch beschäftigen: Der Mann konnte nicht glauben, was dieser so wenig kasteite Mexikaner da von sich gab. Porfirio mochte zeitlebens gutes Essen, auch wenn es einfach war.

In seinem ersten Heft der “Einfälle” berichtet er mit großer Hingabe von seiner Priesterweihe in Loyola am 31. Juli 1956. Daran nahmen auch seine Mutter und vier seiner ledigen Schwestern teil, mit denen er danach durch Europa reiste. Diese Reise mit lauter jungen und launenhaften Frauen fand er – der doch an männliche, intellektuelle und spirituelle Gesellschaft gewöhnt war – nicht sehr spaßig.

Zurück in Mexiko, verzweifelt er an dem geringen Schwung und Einsatz der Gesellschaft Jesu und des Klerus. In diesem Sinne schreibt er am 2. Juli 1958, es sei der psychologische Komplex des “In Mexiko geht das nicht”, was uns ruiniere. Es sei genau diese Neurose des “Ich kann nicht, es ist hoffnungslos, Gott wird mir beistehen, ich tue, was ich kann”, “Wir haben keine Leute, nach und nach wird Gott das Seine tun”… Und er schließt: “Christus würde man heute kein Vertrauen schenken, ‘man würde ihn fürchten’, und mit Recht. Christus ist sehr gefährlich, er ist eine ständige Bedrohung für die bestehende ‘Ordnung’ der Dinge.”

1959-60 fuhr er wieder nach Europa und studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Münster. Er bewunderte besonders Oswald von Nell-Breuning, den Wirtschaftsberater von Adenauer. Die Anmerkungen in seinem Ökonomie-Heft sind äußerst enthüllend. Bei seiner Rückkehr nach Mexiko zwei Jahre später wurde er, unter Berücksichtigung seines Studiums, an die Fakultät für Handel und Verwaltung des Instituto Tecnológico de Estudios Superiores de Occidente (ITESO) in Guadalajara berufen. Und Kardinal Garibi ernannte ihn zum kirchlichen Berater der Arbeitgebergremien. Die Unternehmer reagierten auf seine kritischen Fragen zugunsten ihrer Arbeitnehmer nicht, weshalb er sich schließlich dazu entschloss, die Letzteren zu organisieren. Die Wut der Unternehmer ging bis hin zu Morddrohungen und beschleunigte seine Abreise aus Guadalajara. In sein Tagebuch schrieb er: “Wie hart ist das Leben, nicht wahr? Vor allem, wenn man etwas Ernsthaftes daraus machen möchte.”

Nirgends in der Provinz der Jesuiten Mexiko wollte man ihn aufnehmen aufgrund seiner Hinterfragungen, seines leidenschaftlichen Einsatzes für die Armen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die “Kirche der Armen” offiziell erst ab 1968 anerkannt zu werden begann. Porfirio war ein Prophet und wurde als solcher geächtet.

Schließlich nimmt ihn Pater Gómez Michel in Chihuahua auf, wo er von 1961-1964 bleibt. Dort unterrichtet er Ethik und Philosophie und motiviert seine Schüler, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Seine Spur ist dort noch heute zu finden. Als er Jahre später Luis Álvarez während seines Hungerstreiks besuchte – an dessen Seite befand sich Pilar Herrera –, sagte dieser zu ihm: Diese ganze Bewegung hast du begonnen, Porfirio. Seine Schüler vom “Regional de Chihuahua” erinnern sich noch heute mit immenser Zuneigung an ihn.

Ferner organisierte er die Studenten, die er über die ganze Stadt hin zur Unterstützung des Pepsi-Cola-Streiks moblilisierte, der jene Jahre prägte. Daran nahmen Arturo Alcalde, heute Anwalt für Arbeitsrecht, und Bertha Luján teil, heute Führungsmitglied des Frente Auténtico del Trabajo (FAT). Antonio Villalba, Generalsekretär der Gewerkschaft, nahm die Bestechungsgelder nicht an, die ihm das Unternehmen für einen Verrat an den Arbeitnehmern anbot, verlor daraufhin seine Stelle und wurde auf eine schwarze Liste gesetzt. Alfredo Domínguez, Freund Porfirios und Führungsmitglied des FAT, bot ihm an, sich der Organisation anzuschließen. Sie alle sind sehr liebe Freunde Porfirios bis zu seinem Tod geblieben.

Die Diözese, verbündet mit den Mächtigen, wurde mit Profirios unbezähmbarem Eifer für das Reich der Gerechtigkeit nicht fertig. Der Bischof gab ihm 24 Stunden, Chihuahua zu verlassen. Worauf Porfirio ihm erwiderte: “12 reichen mir” – alle, seine Schüler, seine Freunde, Arbeiter… halfen Porfirio beim Einpacken seiner Bücher und im Geleitzug begleiteten sie ihn bis an die Landstraße, um ihn zu verabschieden. Es war ein Trauer- und ein Festzug.

In Torreon suchte er Zuflucht bei seiner Mutter. Doña María Eugenia: eine bewundernswerte Frau, die trotz ihrer Liebe zu den Jesuiten immer auf seiner Seite stand. Das in seinem Tagebuch widergespiegelte Leid ist unsäglich, und sooft er sich daran erinnert hat, brachen die Wunden wieder auf. Im September jenes Jahres 1965 schreibt er sein erstes Buch: Hambre y sed de justicia [Hunger und Durst nach Gerechtigkeit].

Die Lösung war wieder einmal, räumliche Distanz zu schaffen, und so schickte man ihn zum Studium nach Europa – etwas, worum er selbst gebeten hatte, denn er sah ganz klar, wie wichtig eine solide akademische Bildung war. 1967 nahm er ein Promotionsstudium in Bibelwissenschaften am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom auf. Zur Aufnahme am Institut musste er neben Spanisch auch Griechisch, Latein, Hebräisch, Italienisch, Englisch und Französisch können. Das kostete ihn keine Mühe, denn er verstand außerdem noch Portugiesisch, lernte Russisch und hatte ein außergewöhnliches Sprachtalent. Seine Examensarbeit, später in Mexiko unter dem Titel Marx y la Biblia [Marx und die Bibel] veröffentlicht, wurde von den übergeordneten Stellen abgelehnt, und es gab eine gewaltige Auseinandersetzung. Jahre danach wurde sie zu einem der Lehrwerke eben dieses Bibelinstituts.

 

Porfirios Aufenthalt in Rom verschaffte ihm auch bedeutenden Einfluss bei den Obrigkeiten der Societas Jesu insgesamt.

Er begann eine Reihe von Diskussionen zur in Lateinamerika anstehenden Frage sozialer Gerechtigkeit und bat Pater Arrupe wiederholt darum, dies bei einem Treffen der lateinamerikanischen Obrigkeiten bestätigen zu lassen. Daraufhin wurde schließlich das Treffen der höchsten Superioren Lateinamerikas einberufen, das vom 25.-29. Juli 1966 stattfand. Aus dieser Versammlung ging das Centro de Investigación y Acción Social de América Latina (CIAS) hervor.

An diesem Treffen nahm Profirio zusammen mit zwei anderen Vertretern von Pater Arrupe teil. Schon bei Beginn ergriff er das Wort und schlug als Ziel dieses Treffens vor, den Generaloberen um eine Erklärung zu bitten, um zu wissen, auf welcher Seite die Gesellschaft Jesu in diesem Kampf zwischen Arm und Reich stehe. Eine offizielle Stellungnahme der Gesellschaft als Antwort auf die soziale Frage Lateinamerikas.

Es schien, als habe man seinen Vorschlag bereits vergessen, als zum Ende des Treffens nach endlosen Diskussionen eine von Hernán Larraín geleitete Gruppe nach Mitternacht an Porfirios Tür klopfte; die ganze Nacht über bereitete man das Schlussdokument vor und forderte darin vom Generaloberen eine offizielle Stellungnahme. Dieses Dokument wurde auf der Schlusssitzung angenommen und unterschrieben.

 

Verschiedene Male haben wir Porfirio erzählen hören, wie der Brief von Pater Arrupe vom Dezember 1966 zur sozialen Frage praktisch sein Werk gewesen sei. Nach der erwähnten Tagung entschließt sich der Generalobere mit erstaunlicher Offenheit, dem Gesuch der Versammlung des CIAS stattzugeben, und beauftragt mit der Ausarbeitung eines Entwurfs Pater José María Abad. Dieser geht auf Porfirios Zimmer und bittet ihn, das Schreiben zu verfassen. So wurde dies zur Grundlage des Schlussdokuments. Der Brief – noch vor Medellín (1968) – wirkt wie Sprengstoff. Die soziale Bewegung in ganz Lateinamerika hat nun einen Rückhalt aus Rom und eine von dort vorgegebene Richtung.

Nach seiner Rückkehr nach Mexiko im Jahr 1969 beginnt Porfirio am Instituto de Filosofía y Ciencias der Jesuiten in San Ángel in Mexiko-Stadt. Provinzialoberer ist Enrique Gutiérrez Martín del Campo, das “Vögelchen”. Dieser Mann von außergewöhnlichen Qualitäten ermöglichte 1972 die Veröffentlichung von Marx y la Biblia, vier Jahre nach der ursprünglichen Abfassung; sowohl vor wie nach der Publikation war die Schrift Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Sie hatte eine enorme Verbreitung in Mexiko und dem Ausland und ist in verschiedenen Sprachen erschienen (vgl. Literaturangaben).

Trotz eines Provinzialoberen, der ihn verstand und unterstützte, erkannte Porfirio, dass seine Schwierigkeiten mit der Gesellschaft Jesu und der Kirche kein Problem von Personen, sondern mit Institutionen waren. Er konnte diesen Institutionen nicht weiterhin angehören und sie so mit seiner Zugehörigkeit unterstützen. So entschloss er sich, aus der Societas Jesu auszutreten.

Am 1. September 1967 schreibt er: “Ich kann nicht weiter in einer Struktur mitarbeiten, die den Kapitalismus unterstützt… Als ich mich zum Zölibat verpflichtete und das Gelübde ablegte, dachte ich, der Klerus werde nicht zögern, die Revolution der Armen zu unterstützen…”.

Und er fährt nach Torreón und sucht die verständnisvolle Liebe seiner Mutter. Wieder einmal beklagt sich sein verletztes Herz im Tagebuch: “Ich fühle mich wie nach einer schweren Krankheit, bei der es um Leben und Tod ging und man nicht mehr in sein früheres Sein zurückfindet”.

Er bekommt einen Job in Zihuatanejo angeboten: Alphabetisierung. Der Kontrast zwischen seiner Arbeit, nämlich Erwachsene zu werben, um ihnen Lesen beizubringen, und seiner Tätigkeit am Tagebuch und an seinen damaligen Schriften – alle im Zusammenhang mit seinen Studien zum Denken von Bloch, den Existenzialisten, Aristoteles, Hegel und den großen Philosophen… Alphabetisieren war gewiss nicht sein Weg.

Porfirio gibt diese Arbeit auf und zieht nach Ciudad Nezahualcóyotl, um mit einem Minimum auszukommen – wie er zu sagen pflegte: Nach Neza bin ich als Armer gekommen, nicht um den Armen zu helfen. Er brauchte seine ganze Zeit zum Nachdenken, Studieren, Schreiben. Dies war seine wahre Berufung und sein wirklicher Beitrag zum Reich, denn seine Motivation war dieselbe – wenn auch nicht innerhalb der Institution.

Er schreibt dann “Marx en México” und lehrt Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universidad Nacional Autónoma de México mit einer gut dokumentierten Kritik am Rechtspositivismus, die bereits in El Ser y el Mesías [Sein und Messias] und Marx y la Biblia angeklungen war und die er später umfassend in seinem Buch Apelo a la Razón. Teoría de la ciencia y crítica del positivismo [Appell an die Vernunft. Wissenschaftstheorie und Kritik des Positivismus] entwickeln wird.

1974 wurde die Universidad Metropolitana gegründet, und er begann dort als Professor für Philosophie. Leiter der Philosophischen Abteilung war Roberto Caso, von Haus aus Mathematiker und ein positivistischer Denker, der mit Philosophen analytischer Denkrichtung, die aus der Philosophischen Abteilung der UNAM stammen, ein Arbeitsteam bildete. Die Auseinandersetzung mit Porfirio ließ nicht auf sich warten: Er wurde, wo immer es möglich war, isoliert, eingeengt und ausgeschlossen. Die Studenten sprachen allerdings nicht auf die von dieser Dozentengruppe aufgedrängte Denkrichtung an, und die Lehrveranstaltungen der Philosophischen Abteilung hatten manchmal nur 3 oder 4 Teilnehmer. Porfirio unterrichtete lieber innerhalb des Studium Generale, das allen Studienfächern vorgeschaltet ist, wo die Gruppen groß waren und Porfirio ein Publikum hatte, das ihn anregte. Dort lehrte er bis in die letzten Jahre des Jahrhunderts vor einer immer größeren Zuhörerschaft: in einem Maß, dass seine Lehrveranstaltungen schließlich statt in einem Unterrichtsraum in einem Hörsaal stattfanden.

Als Gabriel Vargas die Leitung der Philosophischen Abteilung übernahm, verbündeten sich die marxistische und die christliche Richtung, Porfirio eingeschlossen, um einen Studienplan aus humanistischer und historischer Sicht auszuarbeiten. Dies ermöglichte Porfirio die Rückkehr auf den philosophischen Lehrstuhl und die Abhaltung seiner Lehrveranstaltung über Hegel.

Trotz der Probleme wurde die Universidad Metropolitana immer mehr zu seinem Rückhalt: In ihr fand er einen Platz, von dem aus er diskutieren konnte, der es ihm ermöglichte weiterzuforschen, zu schreiben und zu publizieren. Dort bildete sich allmählich eine Gruppe Schüler heraus, in die er seine Hoffnung auf eine Fortsetzung seines Werks setzte: u.a. Héctor Villanueva, Mario Rojas, Carlos Francisco Martínez und Mario Alberto Rodríguez. Seine Schwierigkeiten hatten nicht aufgehört und er spürte sie bei den unterschiedlichen Veranstaltungen, die stattfanden; z.B. wurde für einen Vortrag, den er halten wollte, der Titel auf den Werbeplakaten geändert: statt Liberalismo y cinismo [Liberalismus und Zynismus] hieß es da Liberalismo y civismo [Liberalismus und Bürgersinn]. Außerdem wurde die Werbung dafür erst am Tag vor der Veranstaltung verteilt. Trotzdem war der Hörsaal überfüllt. Solche Probleme veranlassten ihn zu noch gründlicherer Forschungsarbeit, um seine Ideen erfolgreich beweisen zu können.

Sein Einsatz als Lehrer, als Professor wurde schließlich anerkannt und belohnt: zunächst mit der höchsten Gehaltsgruppe und 1995 mit dem Titel Profesor Distinguido, auf den er besonders stolz war und der es ihm ermöglichte bei Beratungen, zu denen der Rektor die betreffende Gruppe einberief, zu anderen Persönlichkeiten der Universität Kontakte zu knüpfen.

In der Zeit seiner Arbeit an der Universität begann er in Fernsehdebatten aufzutreten und in Zeitungen wie Unomásuno (s. Literaturangaben) und später – bis an sein Lebensende – in Proceso zu schreiben. Viele seiner Artikel wurden auch in der Zeitung El Norte veröffentlicht, ferner war er Mitarbeiter der Wochenbeilage der Tageszeitung Reforma. Zahlreiche dieser Artikel, wie etwa “Was ist die Moderne?”, sind von positiver Bedeutung.

Mit einem festen Etat änderte sich nun auch sein privates Leben. Er zog in die Colonia Modelo. Dort empfing er seine neuen Bekannten aus der Universität, die Freunde fürs Leben wurden, wie etwa Ignacio Llamas und Nora Garro. Die Treffen waren fröhlich, Porfirio sang gern und teilte die Freude aller anderen. Zur Universität fuhr er mit dem Fahrrad, so wie er es immer in Guadalajara (wo man sich an ihn erinnerte, wie er mitten auf der Avenida Tolsa das Lenkrad losließ) und in Chihuahua getan hatte.

Später kaufte er sich eine Wohnung in der Straße Tecualiapan im Stadtbezirk Coyoacán. Seine finanzielle Sicherheit verlieh ihm die nötige Ruhe, sich noch entschlossener seinem Werk zu widmen und auch an die Gründung eines Hausstands zu denken. Im Juli 1979 erklärte er sich María Adela Oliveros Maqueo in einem argentinischen Restaurant in Coyoacán. Als sie Ja sagte, stellte er sich mitten ins Restaurant und forderte alle auf, mit ihm anzustoßen! So begann eine 22 Jahre dauernde Beziehung, die beide in zunehmendem Verständnis und Glück einte. Die Widmungen seiner Philosophiebücher sprechen für sich.

Zur Vorstellung seines Buchs Comunismo en la Biblia am 4. Juni 1981 versammelte sich ein sehr zahlreiches Publikum, das den Fonagora-Saal in der Av. Revolución füllte. Der historisch bekannte Fotograf Casasola (Enkel) machte eine Reihe Fotos der verschiedenen Gesichtsausdrücke des Autors bei seinem Vortrag, die ein Juwel in ihrer Art darstellen. Dieses Buch beschließt seine Etappe als Schriftsteller und Forscher zu Bibelthemen. Es hatte großen Erfolg und weite Verbreitung; er hielt Vorträge von Südamerika (Peru) bis in die USA, z.B. den Kurs im lutherischen Seminar für Theologie The Center for Global Service and Education am 9.-10. November 1984 über “Kommunismus in der Bibel”, bei dem er der einzige Referent war. Nun begann die Etappe seiner philosophischen Werke.

Es fällt bei der Lektüre seiner Bücher auf, dass in den Hauptlinien seines Denkens Kontinuität herrscht, die aber im Verlauf seiner Schriften reichhaltiger wird. Das betrifft die Denunzierung des Positivismus, des Relativismus oder des Skeptizismus. Oder das Thema der Gerechtigkeit. Oder die unbeschränkte Würde jedes Menschen. Oder das Werden des Menschen im geschichtlichen Heute. Oder die Verbindlichkeit der Moral als Antwort auf die Anrede des Anderen… Diese Hauptlinien werden als Wahrheit zunächst auf exegetisch-historischem Feld und in dieser zweiten Etappe durch philosophisch-wissenschaftliche Beweisführung bewiesen. Insofern bildet sein Werk ein solide strukturiertes kompaktes Ganzes, in dessen Rahmen viel zu ergänzen, zu diskutieren oder fortzuführen ist.

In dieser Zeit zog Porfirio nach Témamela im Bundesstaat Mexiko – ein kleines Dorf, wo er 20 Jahre lang gelebt hat und wo schließlich seine sterblichen Überreste auf dem Gemeindefriedhof ruhen. Dort schrieb er seine, nach seinen eigenen Worten, wichtigsten Bücher: die philosophischen. Er selbst hat eingeräumt: Wenn er nicht auf dem Land gelebt hätte, ohne Telefon und ohne ständige Besucher, wäre ein Werk von diesem Umfang nicht möglich gewesen, “es ist die Arbeit eines Teams”.

In einem Bericht, den er dem INI (Instituto Nacional de Investigadores) vorlegt, heißt es: “Meine drei wichtigsten Bücher – alle drei (wiederab-)gedruckt in Spanien – sind Apell an die Vernunft, Hegel hatte recht und Rationalität und Demokratie. Das erste hat bereits drei und das zweite zwei Auflagen.” (2001, anlässlich der Ehrung zu seinem ersten Todestag, wird die dritte Auflage gedruckt – mit einem Nachwort des Generalrektors Dr. Luis Mier y Terán auf der hinteren Umschlagseite.)

Über “Appell an die Vernunft” sagt er: “Ich stimme mit dem Positivismus darin überein, dass es nicht Sache der Philosophie ist, wunderschöne oder grandiose Weltsichten oder intellektuelle Einfälle zu lancieren und zu sehen, wem sie gefallen, sondern dass jede Aussage erstens Bedeutung haben und zweitens mithilfe strenger Logik als wahr bewiesen werden muss. In Apelo a la Razón zeige ich jedoch unter Berufung auf eine strengere Erkenntnistheorie als die des Positivismus, dass dessen Hauptthesen in beiderlei Hinsicht falsch sind bzw. unwichtig, weil tautologisch. Ich unterziehe auch die neopositivistische Logik und ihren Begriff des Beweises als solchen einer anspruchsvolleren Untersuchung. Ebenso analysiere ich die neopositivistische Sprachphilosophie sowohl hinsichtlich der formalen Sprache als auch hinsichtlich der ‘Ordinary language philosophy’.

In Hegel hatte recht zeige ich, dass die Tradition der großen Philosophie (Platon, Aristoteles, Descartes, Hume, Kant und Hegel) einige Thesen von entscheidender Bedeutung für die Menschheit beigetragen hat – Thesen, die dem Angriff des Positivismus und des Skeptizismus umfassend standhalten. Der Kernpunkt des Beweises besteht darin zu zeigen, dass die Schlüsselbegriffe keine empirische Bedeutung haben und deshalb ihren Ursprung nur im Selbstbewusstsein haben können (Introspektion ist ein metaphorischer Ausdruck). So erklärt sich übrigens, dass Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen sich gegenseitig zu verstehen in der Lage sind.

Der Gang durch die Beweise für alle Grundbegriffe (einschließlich derer der so genannten empirischen Wissenschaften) findet sich in der ‘Wissenschaft der Logik’ Hegels und in seiner ‘Geschichte der Philosophie’. Mein Buch zieht die Bilanz. Der Grund, warum der Beitrag der großen Philosophie nicht in Betracht gezogen worden ist, war der irrige Glaube an den empirischen Ursprung der Begriffe: ein Irrglaube, den Locke und seine Anhänger von den Scholastikern geerbt haben.

In Rationalität und Demokratie zeige ich, dass Materialismus und Skeptizismus die größten Feinde der Demokratie sind: Denn wenn alles relativ ist, steht alles zur Wahl, und die Minoritäten haben dann keine Möglichkeit, sich zu wehren. Ich widerlege diejenigen, die den berühmten naturalistischen Trugschluss anprangern, die ja objektiv moralische Urteile für nichtig erklären. Ich widerlege auch den Materialismus und alle Arten von Skeptizismus, einschließlich den Habermas’. Ich kritisiere John Rawls’ Gerechtigkeitsbegriff und ziehe eine Bilanz der Wissenschaftstheorie unseres Jahrhunderts.”

Am Freitag, dem 7. März 1997 um 19 Uhr veranstalteten seine Schüler, Freunde und der Frente Auténtico del Trabajo anlässlich der Vorstellung seines Buchs “Rationalität und Demokratie” in der ehemaligen Kirche San Jerónimo der Universidad del Claustro de Sor Juana eine Hommage für Porfirio Miranda, “in Anerkennung für den Freund, Sozialaktivisten, hervorragenden Philosophen und Bibelforscher, den Christen, d.h. den Menschen in seinen verschiedenen Facetten” (Zeitschrift La UAM, 24.7.1997). Die Veranstaltung zog eine große Zahl Menschen an, die in der Kirche keinen Platz mehr fanden und außerhalb teilnehmen mussten. Unter denen, die über sein Leben und Werk sprachen, sind vor allem zu erwähnen: der Rektor der UAM Iztapalapa Dr. Gázques Mateos; der Priester, Leiter der CRT und Jugendfreund Porfirios Dr. Luis del Valle; der Dominikanerpriester und Journalist Miguel Concha; das Mitglied der Koordination des Frente Auténtico del Trabajo Alfredo Domínguez; ferner Dr. Luis Brito, Philosoph und Erforscher des Werks von José Porfirio Miranda; Yolanda de Valle, Psychologin und Teilnehmerin an den Philosophieseminaren in Temamatla; Nora Garro, enge Freundin und Mitbegründerin der UAM; Enrique Maza, Journalist und Freund. Diese Ehrung war ein Höhepunkt seines Lebens. Der stets Bekämpfte, für den es keinen Platz zum Leben oder Arbeiten gab, wurde anerkannt und geehrt als Mensch, als Sozialaktivist, als Bibelforscher, als Philosoph.

Danach setzte er seine Arbeit fort. In seinem Arbeitsbericht für das INI vom Februar 1999 heißt es:

“Dann übersetzte ich mit Hilfe einer Amerikanerin Racionalidad y Democracia ins Englische, denn ich bin sehr an der anglophonen Leserschaft interessiert. Vier meiner früheren Bücher sind ins Englische übersetzt worden; eins davon hat in dieser Sprache sieben und ein anderes fünf Auflagen erlebt.”

“Danach habe ich mich zwei Jahre lang mit empirischer Anthropologie beschäftigt und bin gerade mit der Abfassung von Antropología e indigenismo fertig geworden.”

Dieses Buch, sein letztes, führte zu einer Reihe von Diskussionen, die denen glichen, die er in den Sechzigerjahren durchgemacht hatte, als er von sozialem Kampf sprach. Von Neuem erscheint der Prophet. Auf dem Höhepunkt des Indigenismus kommentierte er: “Ich habe die Genugtuung, der Erste zu sein, der ihn anprangert”. Und er fügte hinzu: “Für jeden Indigenen bin ich bereit mein Leben hinzugeben, aber nicht für den Indigenismus, der am Ende den Indigenen selbst schaden wird.”

Am 11. September 2001 diagnostizierten die Ärzte bei ihm einen unheilbaren Lungenkrebs. Seine Reaktion war: “Wie unbedeutend ist mein Leiden gegenüber dem, was gerade in der Welt passiert!” Schon schwer krank, war das Einzige, was er unbedingt im Fernsehen sehen musste, die Nachrichtensendung des Canal 11. Seine wenigen Kommentare drehten sich um die aktuellen Ereignisse in Mexiko und der Welt. Knapp einen Monat später starb er, am 9. Oktober um 0.35 Uhr; er war gerade 77 Jahre alt geworden. Er wurde in der RORAC-Stiftung aufgebahrt, wo seine Frau arbeitet und wo er seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte: heute Sitz des Centro de Estudios Filosóficos José Porfirio Miranda. Die Totenmesse fand in Temamatla in der kleinen Barockkirche aus dem 17. Jh. statt; sein Jugendfreund Luis del Valle las die Messe und sprach mit ihm von der Kanzel aus. Seine Schüler aus Chihuahua und aus der UAM Iztapalapa und seine Freunde trugen den Sarg bis zum Gemeindefriedhof. Porfirio selbst hatte seiner Frau den Grabspruch geschrieben: “Expectat resurrectionem mortuorum”, “Er erwartet die Auferstehung der Toten”.

Das Centro de Estudios Filosóficos José Porfirio Miranda in Temamatla, Bundesstaat México, bewahrt aufgrund eines Abkommens mit der Universidad Autónoma Metropolitana seine Bibliothek und sein veröffentlichtes und unveröffentlichtes Werk und hat die Aufgabe, es zu verbreiten und seine Forschungsarbeit weiterzuführen. Es ist eine Stätte zum Studieren, Nachdenken und Forschen, die über geeignete Einrichtungen und Unterbringungsmöglichkeiten für Kurse, Seminare oder Forscher verfügt.

María Adela Oliveros de Miranda

Temamatla, Bundesstaat México

Februar 2002

 

Anmerkung: Auf der Website findet sich eine Zeittafel mit den Lebensdaten von J.P. Miranda, die den wichtigsten Ereignissen der mexikanischen Geschichte gegenübergestellt werden.

Centro de Estudios Filosóficos José Porfirio Miranda
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Temamatla 56650, Edo. de México
México
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Eine gekürzte und leicht veränderte Fassung dieses Artikels findet sich in der Zeitschrift der UAM Signos Filosóficos, Nr. 7, Januar–Juni 2002. Red de revistas científicas de América Latina y el Caribe, España y Portugal.

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